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Warum kann man innerhalb eines Augenblicks Schaden anrichten, während die Heilung Tage, Jahre oder gar Jahrhunderte beansprucht? Wir verausgaben uns bei dem Versuch, Schaden schneller zu reparieren, als die nächste Wunde geschlagen werden kann.
Dr. Wellington Yueh,
Medizinische Suk-Aufzeichnungen
Da der ehemalige Imperator beschlossen hatte, die Inspektionsgruppe zu den Terraformingprojekten zu begleiten, wurde aus einem einfachen Ausflug in die Ödnis eine Angelegenheit von solcher Komplexität, dass sie fast an die Vorbereitung einer Entscheidungsschlacht heranreichte. Der imperiale Lufttransporter wurde mit Lebensmitteln und Erfrischungen beladen und mit mindestens einem Bediensteten für jeden hochrangigen Passagier bemannt.
Die Qizaras, die Irulan und Chani begleiteten, sahen keinerlei Vorteil in der Anwesenheit des ehemaligen Imperators. Viele von ihnen verstanden nicht, warum er überhaupt noch lebte, da ein besiegter Fremen-Anführer inzwischen längst getötet worden wäre – doch Irulan sagte ihnen, dass sie ihre Einwände für sich behalten sollten. »So ist es eben.«
An Bord des großen schwebenden Transporters achtete Jessica weiterhin auf mögliche Reibereien zwischen den Fedaykin, Priestern und Corrino-Hauswachen. Einige Sardaukar bildeten eine persönliche Leibwache um den gestürzten Imperator, für den Fall, dass irgendeiner von Muad'dibs Männern insgeheim plante, ihn zu ermorden. Doch Jessica wusste, dass nichts Geheimes daran sein würde, wenn Paul jemals beschließen sollte, sich Shaddams IV. zu entledigen.
Als Chani den Fedaykin und den Priestern ihre Plätze zeigte, gab Shaddam sich kaum Mühe, seine Verachtung vor ihr zu verbergen. Er wahrte Distanz und blieb im vorderen Aussichtsbereich des schwebenden Transporters. »Eine einfache Konkubine sollte keine Männer herumkommandieren.« Seine Stimme war laut genug, um sich in der allgemeinen Unruhe verständlich zu machen.
Chanis Hand wanderte zu ihrem Crysmesser, und die Fedaykin und die Priester wären sofort bereit gewesen, sich hier und jetzt ins Gefecht zu stürzen. Die Sardaukar traten näher an den Imperator heran und bildeten eine dichte Verteidigungsformation.
Doch Jessica legte Chani einen Finger auf den Unterarm. Ebenfalls laut genug, um sich Gehör zu verschaffen, sagte sie: »Der ehemalige Imperator ist lediglich aufgebracht, weil seine eigene Rolle sogar noch geringer ist als die einer Konkubine. Ich war einst eine Konkubine, und jetzt bin ich regierende Herzogin.«
Die Beleidigung ließ Shaddam zusammenzucken, und als Graf Fenring laut kicherte, errötete er.
»Genug von diesen Possen«, blaffte Irulan. »Vater, du wärst gut beraten, daran zu denken, dass mein Gatte Salusa Secundus durchaus ein weiteres Mal sterilisieren könnte. Alle hier wären sehr erfreut, diese Inspektion so schnell wie möglich abschließen zu können, also sollten wir uns ohne Verzögerung an die Arbeit machen.«
Als der Lufttransporter abflog, suchte Jessica sich einen Platz zwischen Chani und Irulan. Obwohl sie keinerlei Zuneigung füreinander empfanden, lebten beide in der Zitadelle von Arrakeen und hatten schon vor langer Zeit gelernt, sich gegenseitig zu tolerieren. Beide wollten etwas, was die jeweils andere besaß: Chani wollte als Pauls Gattin bezeichnet werden, und Irulan wollte Pauls Liebe.
Jessica, die keiner der beiden eine Vorzugsbehandlung zuteil werden ließ, dämpfte ihre Stimme, damit das Gespräch unter ihnen blieb. »Ich brauche eure Einsichten, von euch beiden. Ich bin schon so lange von meinem Sohn getrennt, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich ihn noch kenne. Ich sehe seine Entscheidungen nur durch einen Filter der Distanz und der voreingenommenen Berichte, und ehrlich gesagt beunruhigt mich viel von dem, was er tut. Erzählt mir von Pauls Alltagsleben, von seinen Stimmungen, seinen Ansichten. Ich will ihn verstehen.«
Vor allem wollte sie wissen, warum ihr Sohn das Gemetzel in seinem Namen einfach hinnahm. Als Paul vor langer Zeit Jamis in einem Messerduell getötet hatte, hatte Jessica seine Triumphgefühle zerschmettert, indem sie ihn dazu zwang, die Konsequenzen und Verpflichtungen zu spüren, die sich aus dieser einen Handlung, diesem einen Tod ergaben. »Wie fühlt man sich als Killer?« Ihr Sohn war getroffen und beschämt gewesen.
Und jetzt gestattete er munter den Tod von Milliarden ...
Ich bin Pauls Mutter, dachte Jessica. Sollte ich ihn nicht auf jeden Fall lieben und unterstützen? Doch wenn er auf diesem Weg bleibt, wird die ganze Galaxis ihn als größten Tyrannen der Geschichte sehen.
Irulans Worte klangen steif und förmlich, aber sie erlaubte sich, ein wenig von ihrem Schmerz durchschimmern zu lassen. »Paul spricht nicht offen mit mir. Chani ist seine Vertraute.«
Jessica nahm nicht an, dass Chani Pauls Handlungen jemals kritisierte oder in Frage stellte. Chani zuckte mit den Schultern. »Muad'dib wird von seinen Vorahnungen und von Gott geleitet. Er sieht das, was wir nicht sehen können. Welchen Sinn hat es, nach Erklärungen für das Unerklärliche zu fragen?«
Paul war seinem Versprechen treu geblieben und hatte seine besten Planetologenteams nach Salusa geschickt. Sie arbeiteten im Freien, durchkämmten die Landschaft und errichteten Teststationen. Die Männer hatten nur selten einen Grund, Shaddams Kuppelstadt aufzusuchen.
Jessica blickte aus den Plaz-Aussichtsfenster des gemächlich dahintreibenden Schiffs und sah Büschel widerstandsfähiger Sträucher, von plötzlichen Sturzfluten gegrabene Wasserläufe und bizarre, verdrehte Felsvogelscheuchen, die von den Windgewalten erschaffen worden waren. Trotz der unwirtlichen Umwelt versorgte der Planet eine nicht unbeträchtliche Bevölkerung von abgehärteten Überlebenskünstlern und Nachkommen der Gefangenen, die man hier im Laufe der Jahrhunderte abgesetzt hatte. In Schluchten kauerten sich vereinzelte geschützte Kuppeln und Fertigbauten. Unter ausfahrbaren Reflektorplanen, die Schutz vor den schlimmsten Wetteranstürmen boten, kämpfte das Getreide ums Überleben.
»Im Vergleich zum Wüstenplaneten wirkt Salusa nicht besonders rau«, sagte Chani, die neben Jessica stand. »Es ist offensichtlich, dass die Menschen hier überleben können, wenn sie achtgeben und sich etwas einfallen lassen.«
Irulan näherte sich ihnen von hinten. »Aber angenehm ist es in keiner Weise.«
»Ist es Muad'dibs Aufgabe, es angenehm für sie zu machen?«, erwiderte Chani. »Das müssen die Menschen selber tun.«
»Sie versuchen es«, warf Jessica ein. »Menschen haben diesen Schaden vor langer Zeit angerichtet, und jetzt versuchen Menschen, ihn zu beheben.«
Von der Aussichtsplattform auf der Brücke verkündete Shaddam: »Unser Ziel ist das Nordwestbecken, wo die umfangreichste Wiederaufbauarbeit geleistet wird.« Er zeigte auf einen hervorstechenden Geländeverlauf. »Das derzeitige Lager des Bodenteams befindet sich unten in dieser ausgetrockneten Schlucht. Aus der Luft können Sie alles Nötige sehen.«
»Wir entscheiden selbst, was wir uns ansehen wollen«, sagte Chani. »Landen Sie dort. Ich möchte von Angesicht zu Angesicht mit den Planetologen sprechen. Sie tun ihre Arbeit im Namen meines Vaters Liet.«
»Nein, wir können von hier oben wirklich genug sehen«, antwortete Shaddam, als hätte er das letzte Wort.
Doch Chani ließ sich das nicht bieten. »Irulan und ich haben Anweisung, uns die Sache anzusehen.« Sie warf der Prinzessin einen Seitenblick zu. »Oder haben Sie Angst, sich die Hände schmutzig zu machen?«
Aufgebracht wandte Irulan sich ihrem Vater zu. »Wir landen, und zwar sofort.«
Mit einem Seufzer gab der Imperator die Anweisung an seinen Piloten weiter. Der Lufttransporter und seine Begleitschiffe landeten wie eine Invasionsflotte und erschreckten das arbeitende Planetologenteam. Die Terraformer in ihren staubigen, fleckigen Overalls ließen von ihren Maschinen ab und eilten herbei, um die Besucher zu empfangen.
Die beiden Männer, die die Arbeitsstelle in der Trockenschlucht befehligten, waren Lars Siewesca vom kargen Planeten Culat und ein untersetzter Mann, der sich als Qhomba von Grand Hain vorstellte. Jessica wusste, dass keine dieser beiden Welten ein angenehmer Ort war.
Siewescas Erscheinungsbild verstörte Jessica, denn der Mann war hochgewachsen und drahtig, mit sandblondem Haar und einem sorgfältig geschnittenen Bart. Ahmte er mit Absicht den ermordeten Dr. Liet-Kynes nach? Obwohl unter den Besuchern auch Shaddam IV, seine Tochter Irulan und Lady Jessica waren, beeindruckte es die beiden Planetologen dennoch am meisten, Chani kennenzulernen.
»Tochter Liets! Wir fühlen uns durch Ihren Besuch geehrt«, sagte Siewesca heftig nickend. »Meine Gefährten und ich haben unsere Ausbildung an der Planetologie-Schule in Arrakeen abgeschlossen. Bitte gestatten Sie, dass wir Ihnen unsere Arbeit zeigen! Es ist unser inniger Wunsch, die Lehren und Träume Ihres Vaters zu ehren.« Sie scharwenzelten um sie herum und ignorierten Shaddam, der ausgesprochen verärgert darüber war, obwohl er sich eigentlich nicht besonders für die Arbeiten interessierte.
Die beiden Teamleiter redeten unablässig auf Chani ein und brachten ihre ungezügelte Begeisterung zum Ausdruck. Sie ratterten herunter, wie viel Hektar Land sie gewonnen hatten, wie die Temperaturgradienten verliefen und wie es um die relativen Feuchtigkeitsspuren stand. Während sie unverständliche Zahlen, Prozentwerte und technische Einzelheiten abspulten, ließ Chani sich im lockeren Sand des Schluchtbodens auf die Knie sinken. Sie grub die Finger in die Erde, bohrte sie tief hinein und brachte Kiesel, Sand und Staub zum Vorschein. »Diese Welt ist toter als der Wüstenplanet.«
Irulan blieb stehen. Sie hob sich makellos und schön von der Ödnis ab. »Aber Salusa ist wirtlicher und erholt sich. Laut der Berichte fassen hier neue Ökosysteme Fuß, und innerhalb nur eines Jahres sind die schlimmsten Stürme abgeklungen.«
Chani stand auf und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab. »Ich meinte nicht in dem Sinne tot. Salusa wurde durch Atomwaffen zerstört und jahrhundertelang als Gefängnisplanet benutzt – die Seele dieses Planeten ist tot.«
Das Planetologenteam beeilte sich, die Vorbereitungen für einen großen Test zu beenden. »Tiefenmessungen zeigen eine beachtliche wasserführende Schicht, die unter dem Deckgestein eingeschlossen ist«, sagte Siewesca. »Wir waren gerade dabei, die Barriere zu knacken, damit der unterirdische Fluss wieder fließen kann. Das wird das Gesicht dieses Kontinents verändern.«
»Sehr gut, machen Sie weiter«, sagte Shaddam, als hätte jemand darauf gewartet, dass er Befehle gab.
Im Laufe der nächsten Stunde packten die Arbeiter ihre Ausrüstung und Maschinen zusammen und zogen sich mit den Transportern an den oberen Rand der Schlucht zurück. Qhomba und Siewesca baten darum, an Bord des Beobachtungsschiffs gehen zu dürfen, um den Vorgang zu kommentieren. Nachdem die Arbeitsstelle in der Schlucht verlassen war und man in tiefen Schächten Sprengsätze gelegt hatte, zogen sich auch Shaddams restliche Schiffe auf eine sichere Entfernung zurück.
Qhomba und Siewesca drückten sich an die Aussichtsfenster, und Jessica spürte die ehrliche Hingabe dieser Männer. Das Warten schien endlos zu dauern. Shaddam beschwerte sich über die Verzögerung, nur um von Explosionen unterbrochen zu werden, die tief unter der Erde krachten und Trümmer und Staub gegen die breiten Schluchtwände schleuderten.
Hinter der Wolke aus Rauch und Trümmern schoss eine Wand aus trübem, tosendem Wasser empor, das sich wie spritzendes Blut in das Bett der Schlucht ergoss und dabei Sedimentschichten mitriss. Der Sog peitschte jahrhundertealte Erdschichten zu einer braunen, wirbelnden Flut auf.
Qhomba stieß einen spitzen Jubelschrei aus. Siewesca grinste und kratzte sich den sandfarbenen Bart. »In der Hälfte der Zeit, die wir brauchen, um den Wüstenplaneten umzuwandeln, wird Salusa zu einem Garten werden! In nur wenigen Jahrhunderten wird dies wieder eine fruchtbare Welt sein, die zahlreiche Arten von Leben beherbergen kann.« Er sah aus, als erwartete er allseitigen Applaus.
Shaddam gab lediglich einen galligen Kommentar ab. »Ein paar Jahrhunderte? Davon habe ich nichts.« Er machte nicht den Eindruck, als wollte er so lange hierbleiben.
Jessica musterte den Mann sorgfältig, und der gehetzte Blick seiner Augen ließ sie ahnen, dass er etwas verbarg. Sie fragte sich, was Shaddam und Fenring wohl vorhatten. Sie glaubte nicht eine Sekunde lang, dass die Corrinos sich den Umständen bescheiden gebeugt und allen weiteren Ambitionen entsagt hatten.